Crumbismus

Richard Wurm und sein Crumbismus

Richard Wurm erarbeitete eine neue Technik zur Gestaltung der bemalten Leinwand. Mit Hilfe eines Kärcher Hochdruckreinigers  bricht er die verschiedenen und vorab auf die Leinwand aufgetragenen Farbschichten auf. Dadurch werden die unterschiedlichen Layer punktuell sichtbar. Diese Technik nennt er Crumbismus – abgleitet vom englischen Begriff crumble.

Wie kam Richard Wurm zum Crumbismus?

Zu Beginn seiner kreativen Schaffenszeit versuchte Richard Wurm einen Weg zu finden, die Oberfläche seiner Werke so zu gestalten, wie er sie in seinem geistigen Auge vor sich sieht. Anfänglich geschah dies durch das Auftragen von einzelnen Farbschichten, die er später durch das flächige Abschleifen durchbrach. Da er diesen Vorgang händisch durchführte, wurde die Oberfläche durch sein Einwirken unterschiedlich stark abgetragen und das Bild wurde somit neu erfunden. Somit wurde für ihn sein Innerstes nach außen hin sichtbar und für den Betrachter zugänglich. Ein fortschreitender Dialog zwischen ihm und der Leinwand entstand.

Aufgrund der enormen Staubentwicklung bemerkte er allerdings mit der Zeit die äußerlichen negativen Auswirkungen auf seinen Körper. Ihm wurde bewusst, dass er auf diese Art und Weise seine Arbeit nicht weiterführen konnte. Er war somit gezwungen, eine neue Technik zu entwickeln. Und so entstand der für ihn heute charakteristische Crumbismus.

Richard Wurm erarbeitete sich also eine neue und eigene Technik zur Gestaltung der bemalten Leinwand. Dabei kamen ihm seine Kenntnisse aus dem Studium und seiner Tätigkeit als Bauingenieur zugute: Ihm waren die Wirkung der physikalischen Gesetze aus dem naturwissenschaftlichen Bereich sowohl in der Theorie als auch in der Praxis geläufig. Nun konnte er dieses Wissen auch in seine Kunst einfließen lassen und sich dies für die Gestaltung der Oberfläche zu eigen machen. Durch diesen Prozess geschah unbewusst die Symbiose zwischen seinen zwei Persönlichkeiten: Einerseits der Künstler, andererseits der Ingenieur.

Mit der Zeit entwickelte er ein genaues Gefühl dafür, wie lange und intensiv er den Wasserstrahl auf die Oberfläche einwirken lassen konnte.

In dem Moment, in dem er sich den Naturgesetzen bedient und durch sein Zutun etwas Neues entsteht und etwas Altes verschwindet, befindet er sich im Einklang mit der Schöpfung.

Hier wird der  Crumbismus anhand von Prinzipien der Quantenphysik  erklärt– und macht gleichzeitig die Quantenphysik durch den Crumbismus erfahrbar

Grundidee

Der Crumbismus macht erlebbar, was die Quantenphysik beschreibt:

In der Quantenphysik befinden sich Systeme in einer Überlagerung möglicher Zustände. Erst durch eine Messung nimmt das System einen bestimmten Zustand an.

Der Künstler betätigt einen Hebel: Der Hochdruckwasserstrahl, aus einem Kärcher trägt Farbpigmente von einer mehrschichtig bemalten Leinwand ab. Welche Schichten wie durchbrochen werden, hängt von vielen Faktoren ab (Druck, Abstand, Dauer, Material, Zufall im Strahlverlauf). Das Ergebnis ist deshalb nicht exakt steuerbar.

Gemeinsamkeiten von Crumbismus und Quantenphysik

  1. Welle und Teilchen zugleich
  • Quantenphysik: In der Quantenphysik zeigen Licht und Materie sowohl Wellen- als auch Teilcheneigenschaften. Erst durch die Beobachtung entscheidet sich, wie sie erscheinen.
  • Crumbismus: Im Crumbismus erscheint zunächst eine geschlossene Farbschicht. Erst durch die Energie des Wasserstrahls entscheidet sich, ob Pigmente abgetragen werden oder auf der Leinwand bestehen bleiben. So ist die Farbe zugleich Fläche und Teilchen – je nachdem, wo und wie der Strahl auftrifft.
  1. Unvorhersehbarkeit
  • Quantenphysik: Vor einer Messung weiß man nicht, welchen Zustand ein Teilchen einnimmt.
  • Crumbismus: Vor dem Auftreffen des Wasserstrahls, weiß man nicht, welche Teilchen abgetragen werden und welche Farbe erhalten bleibt.
  1. Einmaligkeit
  • Quantenphysik: Jede Messung ist unwiederholbar, auch wenn ähnliche Ergebnisse auftreten.
  • Crumbismus: Jedes Bild entsteht nur einmal. Wiederholte Handlungen können Ähnliches zeigen, aber nie dasselbe.
  1. Rolle des Beobachters
  • Quantenphysik: Der Beobachter beeinflusst den Ausgang des Experiments.
  • Crumbismus: Der Protagonist/Betrachter wird Teil des Werkes. Erst durch seine Handlung entsteht das Bild. Jeder Betrachter bringt seine eigene Wahrnehmung, Erfahrung und Interpretation mit. Dasselbe Bild erscheint deshalb jedem anders.
  1. Keine Verschränkung
  • Quantenphysik: Verschränkte Teilchen bleiben in einem gemeinsamen Zustand verbunden, auch wenn sie räumlich weit voneinander getrennt sind.
  • Crumbismus: Hier endet die Vergleichbarkeit: Das Bild existiert nur einmal, lokal, konkret.

Erfahrung für das Publikum

  • Der Betrachter wird Protagonist: Ein kleiner Eingriff – das Drücken eines Hebels am Kärcher – verändert unwiderruflich ein vielschichtiges Gefüge.
  • Wie im Quantenexperiment entsteht so eine neue Wirklichkeit im Moment der Handlung.
  • Das Publikum erfährt unmittelbar: Vergangenheit (Schicht), Gegenwart (Aktion) und Zukunft (neues Bild) sind untrennbar verbunden.